Digitalisierung: Wir brauchen in Deutschland ein produktiveres Selbstverständnis

Digitalisierung: Wir brauchen in Deutschland ein produktiveres Selbstverständnis

Über elf Millionen Büroangestellte arbeiteten im Homeoffice, Schulkinder wurden daheim per Videoschalte unterrichtet, der Wocheneinkauf kam aus dem Internet an die Haustür – Deutschland 2020. Ein Erfolg? Der Corona-Test in Sachen Digitalisierung war eher eine schmerzhafte Standortbestimmung für unser Land. Der Grund:

Zwanzig Jahre Prokrastination.

Was wir jetzt brauchen, ist Innovation in der Substanz. Und auch ein neues Selbstverständnis hierzulande würde helfen.

Fortschritte beim digitalen Arbeiten

2020 digitalisierte sich Deutschland im Eiltempo: Im Corona-Lockdown schickte die Wirtschaft ein Viertel ihrer Belegschaft ins virtuelle Heimbüro. Allein 62 Prozent der KMUrichteten laut Digitalisierungsindex Mittelstand 2020/21 Homeoffice-Arbeitsplätze für ihre Mitarbeiter ein. Nach Ifo-Zahlen wollen 73 Prozent der Gesamtwirtschaft nach der Krise weiterhin auf das neue Arbeitsmodell setzen. Bleiben wird auch, dass der Umzug ins Homeoffice den Weg geebnet hat für die Public Cloud bis tief in den Mittelstand.

Aber die Fortschritte beschränkten sich im Wesentlichen auf die Transformation der Büroarbeit. Investiert wurde in Lösungen für Videokonferenzen, Fernzugriffe auf Computer, verschlüsselte Netzwerke und mobile Endgeräte.

Trotzdem fällt Deutschland zurück

Bei aller Freude über das Momentum für digitales Arbeiten in Deutschland:

Die digitale Revolution findet woanders statt.

In nur einem Jahr, zwischen 2019 und 2020, fiel die Bundesrepublik in einer Vergleichsstudie zur Digitalisierung trotz Fortschritten von Platz 6 auf Platz 14 zurück. Unter den G7-Staaten liegt Deutschland auf dem vorletzten Platz. In der Krise senkte mehr als jedes vierte Unternehmen hierzulande seine Investitionen in Robotik, künstliche Intelligenz und virtuelle Realität. Der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie spricht von Markt- und Organisationsversagen.

Was sagen all diese Zahlen? Dass andere Länder schneller dazulernen und uns aus den Top Ten drängen!

Bürger pessimistisch

Das ahnen inzwischen auch die Deutschen. Zum ersten Mal auf breiter Front erlebten sie 2020 die digitale Kompetenz im eigenen Land: beim Stresstest des heimischen Breitbandzugangs, beim Distanzunterricht der Kinder, bei der Anmeldung zur Corona-Impfung oder mit der besten Corona-App ever. Ihre Bilanz? Nach einer Umfrage des Zentrums für digitale Wettbewerbsfähigkeit in Europa haben neun von zehn Deutschen den Eindruck, dass ihr Land dem digitalen Wandel hinterherhinkt.

Was hält uns ab?

Trotzdem müssen wir uns nicht entmutigen lassen von solchen Zahlen. Sie zeigen schlicht, wo wir stehen: Die meisten digitalen Fortschritte der letzten Monate waren Premieren, Piloten, Anfänge. In der Krise mussten wir über unseren eigenen Schatten springen.

Wovor eigentlich haben wir uns in Deutschland zwanzig Jahre gedrückt?

Das Teuflische an Prokrastination ist die negative Konditionierung: Mit dem Aufschieben wächst nicht nur die Furcht vor dem Anfangen, sondern auch die Erwartung an das Resultat. Am Ende ist der Berg so hoch, dass ihn kein Mensch mehr besteigen will.

Estland machts vor

Unsere Nachbarn in Estland taten das Gegenteil: Als kleines postsowjetisches Land machten sich die Esten schon in den 2000er-Jahren daran, ihre Verwaltung zu digitalisieren. Heute sind sie Vorreiter in der EU. Das waren sie selbstverständlich nicht von Anfang an. Sie lernten, was dazu nötig ist, indem sie loslegten – und nicht mehr aufhörten. Im Unterschied zu Deutschland hat Estland keinen Nimbus als Nation von Ingenieuren und Erfindern. Trotzdem zogen sie in einem wichtigen Feld der Digitalisierung an uns vorbei.

Ein produktiveres Selbstbild

Woher kommt dann unsere Wurstigkeit? Die US-Psychologin Carol Dweck spricht von einem statischen Selbstbild. Es beruht auf dem Glauben, dass die eigenen Talente unabänderlich feststünden. Wer sich anstrengen muss, hat nicht das Zeug zur Spitze. Darum scheuen Menschen mit statischen Denkmustern Herausforderungen:Würde ihr Scheitern doch das eigene Unvermögen für alle Welt sichtbar machen. Lob oder Etiketten wie „Land der Ingenieure und Erfinder“ hemmen die Tatkraft, weil sie die Fallhöhe steigern.

Ist das etwa die Ursache für unseren deutschen Perfektionismus, den wir uns allenthalben zugutehalten?

In Deutschland sehen wir die Anstrengungen des digitalen Wandels viel zu oft als Risiko. Für die Esten mit ihrem offenbar dynamischeren Selbstbild sind es genau diese Anstrengungen, durch die sie überragende Kompetenz auf diesem Feld erlangt haben. 

Anzeichen für ein Umdenken

Dass wir jetzt auch von zu Hause aus vernetzt arbeiten können, war überfällig. Aber es war vor allem ein Nachholen von Innovation, die andernorts geschaffen wurde. Gleichwohl mehrten sich 2020 die Anzeichen für ein Umdenken in Europa und Deutschland. Endlich setzen sich die EU-Mitgliedsstaaten unter Führung der Kommission ehrgeizige Ziele für die Ausgestaltung eines digitalen Binnenmarkts.

GAIA-X auf der Agenda

Die europäische Initiative GAIA-X, an der EuroCloud Deutschland und eco intensiv mitwirken, schaffte es zuletzt ganz oben auf die politische Tagesordnung in Brüssel: in die Rede zur Lage der Union von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Als Teil des Programms NextGenerationEU steht GAIA-X für den Aufbau eines europäischen Cloud-Ökosystems, das Wettbewerb, Zusammenarbeit und Privatsphäre fördert statt Monopole, und zwar nach europäischen Regeln. Trotz anfänglicher Skepsis gewinnt GAIA-X immer mehr an Fahrt und war 2020 ein dominierendes Thema in Fachkreisen. „Die Unterstützung und das Momentum sind enorm und GAIA-X wird beflügelt durch sehr unterschiedliche Stakeholder“, fasst eco-Hauptgeschäftsführer Harald A. Summa zusammen.

EuroCloud Deutschland arbeitet an Regeln für den europäischen Datenraum

Experten von EuroCloud Deutschland sind Teil einer GAIA-X-Projektgruppe, die das Bundeswirtschaftsministerium mit 13,5 Millionen Euro unterstützt. Sie entwickeln Konzepte für Open-Source-Technologien, mit denen verteilte Cloud-Dienste im Binnenmarkt sicher, zuverlässig und vertrauenswürdig kooperieren. Unter der Führung von Andreas Weiss, Geschäftsbereichsleiter Digitale Geschäftsmodelle bei eco und Mitglied im technischen Komitee für Federation Services der neugegründeten Gesellschaft GAIA-X AISBL, leistet EuroCloud Deutschland ihren Beitrag, das Leistungsversprechen von GAIA-X umzusetzen.

DE-CIX liefert Interkonnektivität für GAIA-X

Als Blaupause für das europäische Cloud-Ökosystem bietet sich die Technologie des DE-CIX an: die Apollon-Plattform. Sie ist die größte Carrier- und Datacenter-neutrale Datendrehschreibe und verbindet über 2.000 Teilnehmernetze in mehr als 20 Metropolregionen weltweit. Sie könnte das Fundament bilden für Direktverbindungen zwischen künftigen GAIA-X-Knoten, abgeschirmt vom öffentlichen Internet. Die Besonderheit von Apollon ist ihre Sofort-Interkonnektivität: Auf Knopfdruck stellt die Plattform Hochleistungsverbindungen her und wickelt die Verwaltungsprozesse vollautomatisch über Schnittstellen ab. Damit erfüllt Apollon bereits zentrale Anforderungen für eine europäische Dateninfrastruktur.

EuroCloud Native & Channel2Cloud

Aber nicht nur auf großer Bühne waren 2020 Aufbruchssignale wahrzunehmen. Auch in der IT-Branche stieß EuroCloud Deutschland mit ihrer Cloud-Native-Initiative auf starke Resonanz. Unser Ziel, deutsche Cloud-Start-ups besser mit der Wirtschaft ebenso wie mit den Hyperscalern zu vernetzten, wurde begeistert aufgenommen. Der Wille auf allen Seiten, etwas zu bewegen, ist förmlich greifbar. Das erhoffen wir uns auch von unserer neusten Initiative Channel2Cloud, mit der wir Systemhäuser als wichtigste IT-Dienstleisterdes Mittelstands unterstützen, ihr Geschäft auf moderne Cloud-Dienste umzustellen.

Ein neuer Anfang

Das vergangene Jahr brachte so vielen Menschen so viel Leid. Das macht mich und uns demütig, und unsere Gedanken sind bei ihnen. Lassen Sie uns 2020 als Prüfung verstehen und als Chance, es Schritt für Schritt besser zu machen in Zukunft.

Beste Grüße

Ihr Felix Höger

PS. Herzlichen Dank, dass Sie bis hierhin am Ball geblieben sind! Künftig schreiben Bernd Krakau und ich an dieser Stelle für EuroCloud Deutschland über die Transformation des Channels in Richtung Cloud. Eine Übersicht unserer Beiträge finden Sie unter dieser Adresse: https://www.eurocloud.de/channel2cloud.

Frank P. Orlowski

Executive Vice President at DE-CIX

3y

Guter Artikel!

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Stefan Lohmann

Experte für die technische Werkstattausstattung in LKW Werkstätten & Herstellung von Fertiggruben für Nutzfahrzeuge 🚛

3y

Lieber Felix, Du sprichst mir aus der Seele, also heißt für uns machen nicht reden. Spitzen Beitrag

Lieber Felix, danke für diese exzellente Übersicht aller Aktivtäten, damit Deutschland und Europa wieder vorankommt. Man muss halt anpacken und nicht auf andere warten!

Oliver Süme

Partner and Tech & Data Lawyer at Fieldfisher

3y

Auf den Punkt, lieber Felix Hoeger

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